Unangemeldeter Besuch

Kalle Harms, der Chauffeur des Firmenbusses, wartete ungewohnt geduldig auf seinen letzten Fahrgast. Normalerweise fuhr er los, wenn die Kollegen nicht pünktlich waren. Die Vorwürfe am nächsten Tag prallten an ihm ab, wie Regentropfen an seiner gewachsten Windschutzscheibe. Schließlich musste er den Zeitplan einhalten, damit die Anderen ihren Anschlusszug erreichten. Bei Wilhelm Petermann musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, denn es war das erste Mal, dass er sich in siebenundzwanzig Jahren verspätete.
„Nun starten Sie doch endlich“, knurrte Rother ungeduldig.
Harms sah im Rückspiegel, wie sich Rother vorbeugte, dabei spannte das Jackett, sodass der Knopf abzuspringen drohte.
„Ja, sonst verpassen wir unsere Bahn“, stimmte Dr. Bräuer ein.
„Wir haben noch ein paar Minuten Zeit“, beschwichtigte Harms. Er holte sein Fahrtenbuch hervor und machte Eintragungen. Seit achtundzwanzig Jahren fuhr er den Firmenbus bis zum Bahnhof. Die restliche Zeit machte er Botendienste. Die meisten Mitarbeiter behandelten Harms herablassend, schließlich war er in ihren Augen ein einfacher Arbeiter, deshalb fühlten sie sich berechtigt, ihm Anweisungen zu geben. So manche Kämpfe hatte er auszutragen gehabt, denn er unterstand ausschließlich dem Chef der Autoabteilung.
Petermann war nicht nur so pünktlich, dass angeblich nach ihm die Werksuhr gestellt wurde, sondern behandelte jeden, wirklich jeden, in der Firma korrekt und höflich. Natürlich war er stets akkurat mit Anzug und Krawatte gekleidet und seine gelichteten Haare lagen ordentlich gescheitelt in Reih und Glied.
„Können wir diesen Korinthenkacker nicht zurücklassen? Dann erlebt er wenigstens einmal in seinem Leben etwas Abenteuerliches“, schlug Finn, der Auszubildende, vor. Sein Gesicht strahlte bei diesem Gedanken.
Allgemeines Gelächter belohnte seinen Vorschlag. Petermanns Umständlichkeit reizte alle und sorgte für reichlich Spott, den er stoisch ertrug. Nur Kalle Harms, der Pförtner und die Putzfrau waren dankbar, dass er sie genauso freundlich behandelte, wie die anderen Mitarbeiter und mochten ihn daher. Manchmal unterhielt Waltraut Müller sich mit ihm. Niemand nahm sich ansonsten Zeit, ihr zuzuhören. Sein Schreibtisch war immer aufgeräumt und ließ sich problemlos abwischen. Auch lag sein Müll im Papierkorb und nicht daneben wie bei den jungen Leuten im ersten Stock, die zu faul waren, jedes Mal aufzustehen, wenn sie etwas wegwerfen wollten.
Endlich erschien Petermann, ein untersetzter Mann mittlerer Größe. Ruhig, höchstens einen Tick schneller als üblich, lief er über den Hof.
„Mann, geben Sie Gas, wir schaffen es noch, bevor er hier ist“, rief Finn. Doch Harms schien ihn nicht zu hören.
„Fünf Minuten zu spät“, hielt Rother Petermann vor.
„Vielen Dank, Herr Harms, ich hatte ein dringendes Telefonat, es tut mir sehr leid“, entschuldigte sich Petermann.
„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Wir verpassen Ihretwegen die Bahn“, knurrte Dr. Bräuer.
Petermann setzte sich wie üblich auf seinen Stammplatz hinter Kalle Harms, schaute auf die Armbanduhr und wandte sich an Rother. „Es sind nur vier Minuten und fünfzehn Sekunden.“
„Was hätten Sie gemacht, wenn wir weg gewesen wären?“, fragte Finn mit einem breiten Grinsen.
„Dann hätte ich trampen müssen“, erwiderte Petermann ernsthaft.
„Ha, da habe ich also recht. Harms hat Ihnen das Abenteuer Ihres Lebens vermasselt.“ Finns Stimme überschlug sich vor Eifer.
„Herr Harms“, korrigierte Petermann. Anschließend beachtete er Finn nicht weiter, sondern faltete wie gewohnt die Zeitung auseinander. So vermied er es, in das Firmengetratsche hineingezogen zu werden. Obwohl er zu lesen versuchte, kehrten seine Gedanken zum Telefonat zurück.

(…)

Leseprobe aus „Petermanns Chaos“, das Buch ist bei Amazon zu beziehen.

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