2. Wilhelm wird gerettet
Geschockt ließ sich Wilhelm auf einen Küchenstuhl sinken. Typisch Lydia. Wie sollte er als Junggeselle seine Neffen beschäftigen? Er hatte weder Ahnung von Kindern, noch Spielzeug im Haus. Sonst sah er sie zu Weihnachten und den Geburtstagen. Da waren sie fast die ganze Zeit mit ihren Geschenken beschäftigt und halbwegs friedlich. Darüber war er immer recht froh, denn die übrige Zeit nervten sie mit Sonderwünschen oder Wutanfällen, wenn die Wünsche nicht sofort erfüllt wurden.
„Onkel, spielst du Fußball mit mir? Liest du vor?“ Und wenn der Onkel nicht auf der Stelle reagierte, schrien sie sich die Kehlen wund. Es kam auch vor, dass er Nico vorlas, während Sascha tobte, weil Wilhelm mit ihm eine Burg aus Holzbausteinen bauen sollte. Bei den Mahlzeiten konnten sich die Erwachsenen kaum unterhalten, da Lydia die Kinder ermunterte zu erzählen, ohne Rücksicht auf die übrigen Gäste bei Tisch. Und jetzt war er diesen Ungeheuern alleine ausgesetzt.
Sein Blick fiel auf den Staubsauger. Die Scherben! Er sprang hoch, holte die Splitter aus dem Badezimmer, wo er sie aus der Hand gelegt hatte, warf sie in den Mülleimer und saugte den Teppich gründlich. Hannibal verzog sich jaulend in die Küche. Cleo sprang vom Sofa über die Anrichte auf den Schrank und beobachtete ihn. Wilhelm hatte das Gefühl, gleich würde der Kater von oben angreifen, ihm wieder in den Nacken springen. Nachdem er den Ohrensessel und das Sofa gründlich von den Katzenhaaren befreit hatte, fiel sein Blick auf Sascha, der an den glänzenden Knöpfen der Stereoanlage drehte.
„Nein, Sascha, lass die Musikanlage in Ruhe“, sagte er so scharf, dass der Junge erschrocken aufhörte und unter den Tisch flüchtete.
„Onkel Wilhelm, ich habe Hunger“, jammerte Nico.
„Du hast doch gerade etwas gegessen.“ Wilhelm musterte den Neffen wie ein lästiges Insekt.
„Ich habe trotzdem Hunger“, schluchzte Nico.
„Na, komm, dann suchen wir etwas Essbares.“ Wilhelm nahm ihn an die Hand und marschierte in die Küche.
„Magst du ein Käsebrot?“
„Iiii, Käse.“ Nico schüttelte sich und weinte lauter.
„Magst du Schinken?“
Nico schüttelte den Kopf. „Ich will Leberwurst.“
„Die habe ich nicht. Aber wie wäre es mit Marmelade?“
Plötzlich versiegten die Tränen und Nico strahlte. „Ja, Marmeladenbrot.“
Schnell strich Wilhelm eine Scheibe und Nico langte zu. Er verschlang sie in kürzester Zeit und verlangte eine weitere. Sein Onkel staunte, wie eine kleine, zarte Gestalt solche Mengen verdrücken konnte.
Jetzt schrie Sascha. Wilhelm ließ Nico in der Küche und kniete sich vor den Couchtisch.
„Sascha, komm bitte raus“, lockte er.
Aber Sascha brüllte nur: „Mama, Mama.“
„Komm zu uns in die Küche.“ Der Junge brüllte weiter.
„Mama ist gleich wieder da. Nachher bauen wir euch ein schönes Bett. Soll ich vor dem Schlafen etwas vorlesen?“ Das Weinen wurde lauter.
Wilhelm versuchte es mit einem Kinderlied.
Sascha ließ sich einfach nicht beruhigen.
„Möchtest du ein Marmeladenbrot?“, probierte Wilhelm. Sascha weinte weiter. Jetzt fing auch noch Anna-Lena im Schlafzimmer an zu schreien.
Wilhelm holte sie aus dem Wagen und nahm sie auf den Arm. Aber ihr Brüllen verstärkte sich. Hannibal jagte aufgeregt bellend durch die Wohnung. Schließlich sprang er, weiter laut kläffend, an Wilhelm hoch. „Sch, sch, still“, wies Wilhelm den Hund zurecht. Vergeblich. Natürlich wusste er genau, dass Lydia den Hund nicht erzog. Hannibal hatte bisher nie pariert. Er schaukelte das Baby und lief im Schlafzimmer hin und her. Sein Gesicht verfärbte sich rot. Feine Schweißperlen bildeten sich auf Stirn und Nase. Wie konnte Lydia ihn bloß mit ihren Bälgern allein lassen? Er verstand jetzt, warum Eltern ihre Kinder zu den Großeltern oder Tagesmüttern abschoben. Dieses Geschrei hielt niemand aus.
Als etwas an seiner Hose zerrte, schaute er hinunter. Nico versuchte, seine Aufmerksamkeit zu wecken.
„Du Onkel, an der Wohnungstür ist jemand“, sagte er.
„Hast du einfach aufgemacht?“, fragte Wilhelm entsetzt.
Nico nickte. „Es hat ganz lange geklingelt, und du bist nicht hingegangen. Jetzt ist Hannibal weggelaufen“, erklärte Nico lapidar.
„Nicht auch noch“, stöhnte Wilhelm. Insgeheim hoffte er, dass der blöde Köter auf der Straße überfahren wurde, und er ein Problem weniger hatte.
„Herr Petermann, entschuldigen Sie, dass ich so einfach eindringe, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?“ Frau Beierlein, eine alte Dame mit grauen, dauergewellten Haaren und Kittelschürze, lugte vorsichtig durch die Schlafzimmertür. Bisher hatte Wilhelm die ruhige Frau Beierlein aus dem Erdgeschoss kaum beachtet. Trafen sie aufeinander, dann begrüßten sie sich und wechselte ein paar Worte über das Wetter. Zu mehr reichte Wilhelms Interesse an den Nachbarn nicht.
„Meine Schwester ist schnell einkaufen, aber jetzt schreien alle gleichzeitig. Und ich kann sie nicht beruhigen.“
„Na, geben Sie mir mal das Baby und versuchen Sie, den Hund einzufangen. Vielleicht schaffen wir es ja zu zweit.“ Frau Beierlein kommandierte freundlich, aber bestimmend. Sie nahm Wilhelm das Kind ab, ohne auf eine Antwort zu warten.
Anna-Lena hörte sofort auf zu schreien. Erleichtert, wenigstens diese Verantwortung abgeben zu können, flüchtete Wilhelm aus der Wohnung.
Zum Glück war die Haustür im Erdgeschoss geschlossen, und Hannibal stand wütend bellend davor. Durch das Hundegekläff hörte Wilhelm oben etwas scheppern, aber dann konzentrierte er sich auf den Hund. Da der kein Halsband trug, konnte er ihn nicht greifen und das Biest lieferte ihm eine wilde Schlacht, bis er ihn endlich einfangen konnte und nach oben trug.
Aus der Wohnung klangen nur leise Stimmen.
„Wie haben Sie die Kinder zur Ruhe gebracht?“, fragte er erstaunt und beobachte, wie Frau Beierlein das Baby auf dem Couchtisch wickelte.
„Anna-Lena hatte eine volle Windel und Hunger. Nico hat mir gezeigt, wo die Babysachen sind. Ich habe schon Wasser für das Fläschchen aufgesetzt. Können Sie es, wenn es kocht, einfüllen? Sie brauchen es dann nur noch zu schütteln. Aber erschrecken Sie nicht, wenn Sie Ihre Küche betreten. Ich helfe Ihnen nachher beim Aufräumen“, erklärte sie gelassen.
„Und Sascha?“
„Oh, der fremdelt nur und hat seine Mama vermisst. Aber einstweilen begnügt er sich mit Nico.“
Gehorsam ging Wilhelm an die Arbeit. Trotz der Warnung prallte er an der Tür zurück. Seine säuberlich aufgeräumte Küche sah aus, als hätte ein Tornado gewütet. Töpfe, Schüsseln, Bestecke, Eimer, Geschirrtücher und Kartoffeln lagen breitflächig verteilt. Eine rote Spur zog sich über die Schränke und den Fußboden. Als er sich jetzt vorsichtig in der Schneise bewegte, die Frau Beierlein mit ihrem Fuß gebahnt hatte, musste er aufpassen, nirgends kleben zu bleiben. Das Wasser kochte bereits über, als er endlich den Herd erreichte. Natürlich waren auch die Topflappen verschwunden. Suchend schaute er sich um und angelte schließlich das Geschirrtuch unter einer Bratpfanne hervor. Bei dem Versuch, das Wasser in die Flasche zu füllen, kippte sie um. Aber es lief nur ein bisschen aus. Wenigstens hatte er sich nicht die Hände verbrüht. Nachdem er das Fläschchen zugeschraubt hatte, stellte er fest, dass zu wenig Flüssigkeit drinnen war. Das meiste war daneben geflossen. Aber dieses eine Mal musste es eben reichen. Energisch schüttelte er es.
„Darf ich auch mal?“, fragte Nico von der Tür aus und lief zu ihm, ohne Rücksicht auf Kartoffeln und Töpfe zu nehmen.
„Pass doch auf“, herrschte Wilhelm ihn an. „Was ist hier eigentlich passiert?“
Trotzig schaute Nico ihn an. „Weiß nich‘“, antwortete er.
„Aber ich weiß es. Vorhin war die Küche noch aufgeräumt und jetzt sammelst du alle Kartoffeln ein und tust sie in den Eimer. Aber tritt nicht vorher auf sie“, befahl Wilhelm.
Nico zuckte zusammen. Einen solchen Ton war er nicht gewöhnt. Seine Mutter ließ ihn seine Schandtaten jederzeit durchgehen. Unschlüssig blickte er zum Boden. Gerade als er sich davonschleichen wollte, hielt ihn die Stimme seines Onkels zurück. „Na, wird es bald?“ Wilhelm war über sich selbst erstaunt, so energisch trat er sonst nie auf. Aber die Verwüstung hatte ihn zutiefst getroffen.
Er brachte Frau Beierlein die Flasche und half dann Nico. Bald gesellte sich Frau Beierlein mit einem Putzlappen dazu und die Küche sah wieder wie vorher aus.
„Wie wollen Sie alle unterbringen?“, erkundigte sie sich.
Hilflos zuckte Wilhelm mit den Achseln.
„Haben Sie Luftmatratzen? Und ausreichend Decken?“
Wilhelm schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht.“
„Ihre Schwester hat Sie wohl überrascht“, stellte Frau Beierlein fest. „Ich habe auf dem Boden ein paar Ersatzdecken und Luftmatratzen. Wollen Sie die haben?“
„Gern“, meinte Wilhelm. Er sah so erleichtert aus, dass Frau Beierlein lachte. Sie setzte die Kinder und Tiere vor den Fernseher, dann ging sie, die Bettwäsche aus ihrer Wohnung holen. Nach einer Weile kam sie wieder. „Alles schaffe ich nicht. Die Decken und Matratzen liegen vor der Bodentür.“ Schwer atmend häufte sie Bettlaken und Bezüge auf den Couchtisch.
Wilhelm beeilte sich, ihr zu helfen. Selbst er musste zweimal laufen, bis er alles heruntergetragen hatte.
Anschließend bauten sie im Schlafzimmer die Betten auf. Jetzt sah es aus wie eine Liegewiese. Bewegen konnte man sich kaum noch. Dadurch konnten die Kinder allerdings auch nicht hinaus fallen.
„Tagsüber stapeln Sie alles auf dem Bett, damit Sie Platz haben“, empfahl sie.
„Vielen Dank, was hätte ich ohne Sie getan?“, sagte Wilhelm, als sie fertig waren.
„Ich freue mich, wenn ich nützlich sein kann. Früher hatte ich ständig viel zu tun. Wie lange bleibt Ihre Schwester?“
Hilflos zuckte Wilhelm mit den Achseln.
„Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn Sie Hilfe oder Ruhe brauchen“, bot sie an.
(…)
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