Fini kam Lena schnell entgegen. Sie hatte den trippelnden Schritt, den sie immer hatte, wenn sie aufgeregt war. „Schau mal, Lena, da müssen wir hin.“ Sie wedelte mit einer Zeitung vor der Nase herum, so dass Lena den Artikel gar nicht lesen konnte. Nicht einmal den Titel.

„Um was geht’s?“ Lena griff nach der Zeitung.

In dem Augenblick kam Herr Schneider und schloss die Tür zum Klassenzimmer auf. Da er praktisch schon im Flur Unterricht machte und Lena gerade in Mathe am unteren Ende hing, traute sie sich nicht, den Zeitungsartikel unter der Bank zu lesen. Trotzdem bekam sie nichts von der Kurvendiskussion mit. Wozu brauchte man so etwas überhaupt?

In der Pause wollte Lena gerade die Zeitung ausbreiten, als Fini schon zu reden begann. „Die suchen noch Jugendliche für den Debütantenball. Ganz groß im Festsaal. Die Teilnehmer bekommen sogar einen Tanzkurs geschenkt. Samstag fängt die Vorbereitung an. Los lass uns da hingehen.“

Lena schaute sie spöttisch an. „Das klingt wie aus einem Liebesroman. Zu so etwas sind meine Großeltern hingegangen. Wer besucht heute schon die Tanzschule?“ Ihre Alten würden begeistert sein. Seit zwei Jahren lagen sie ihr in den Ohren, dass sie endlich zur Tanzschule gehen sollte. Ihre Mutter würde sofort ein Kleid und hochhackige Schuhe kaufen. Aber so aufgetakelt mochte Lena es gar nicht. Sie lief zum Leidwesen der Mutter lieber leger in Jeans oder Leggins und Pulli herum. Ganz anders Fini. Eigentlich passten die beiden Freundinnen überhaupt nicht zusammen. Fini war die superfleißige Einser-Schülerin, die immer die modischen Klamotten trug, und Lena die faule, die lieber zum Fußballspielen oder Schwimmen ging. Ja, Lena spielte wirklich gut Fußball und war sogar in der Landesauswahl. Zum Glück stand der Vater hinter ihr und fuhr sie zum Auswahltraining und zu den Spielen. Mutter fand es nicht weiblich genug. Außerdem interessierte sie Fußball überhaupt nicht.

Lena rechnete nicht mit Finis Hartnäckigkeit. Sie lag ihr die nächsten Tage ständig in den Ohren und nur die Drohung, nie wieder mit ihr zu sprechen, hielt sie davon ab, Lenas Eltern einzuweihen. Nur um endlich Ruhe zu haben, willigte Lena ein, zu dem Casting mitzugehen. Sie hatte kein Spiel und außer pauken für die nächste Mathearbeit nichts vor.

Fini kam im Minirock mit enganliegendem, bauchfreien Top und hohen Absätzen. Lena blieb, wie sie war. Ein weites T-Shirt, eine Jeans und Turnschuhe. Ihre Lieblingsschuhe. Dementsprechend sahen sie aus. Alt und abgetreten. Fini musterte sie. „Bist du noch nicht fertig?“

„Doch.“

„Ziehst du dir nichts anderes an?“

Lena schüttelte den Kopf. Da Fini wohl Angst hatte, dass die Freundin im letzten Augenblick einen Rückzieher machen würde, hielt sie den Mund. Sie hatte ganz genau nachgeschaut, wo sie hinmussten und wann die Bahn fuhr. Wie üblich war sie zuverlässig, deshalb waren sie eine Viertelstunde vor der Zeit da. Natürlich gab es viel mehr Mädchen als Jungen.

„Tanzen Mädchen zusammen?“, fragte Lena. Ihr Bruder hatte es von seiner Tanzstunde berichtet. Es gab so wenig Jungs, dass einige Mädchen zusammen tanzten. Außerdem wurden die wenigen Jungen gefragt, ob sie nicht im nächsten Kurs aushelfen konnten, daher hatte Jakob mehrere Kurse gemacht.

„Du kannst vielleicht Jakob überreden mitzukommen“, schlug Fini gleich vor. Lena biss sich auf die Zunge. Hätte sie bloß den Mund gehalten.

Bald erschien der Tanzlehrer. Er sah ganz anders aus, als Lena es sich vorgestellt hatte. Nicht wie die uralte Tanzlehrerin, von der Jakob erzählt hatte.

„Hallo, ihr wollte also als Debütanten auftreten. Ich zeige euch jetzt ein paar Schritte und dann tanzt ihr sie nach.“

Ein paar Schritte. Es waren nur sechs. Trotzdem hatten die meisten Probleme, ihre Füße zu sortieren. Ein dunkelhaariger Junge verknotete seine Füße so sehr, dass Lena lachen musste. Er lief rot an. Richtig süß.

„Komm, ist doch ganz einfach.“ Sie nahm ihn an die Hand und machte die Schritte gemeinsam mit ihm. Und sieh da, er konnte es auch.

„Tut mir leid, dass ich gelacht habe“, entschuldigte sie sich.

Er grinste. „Ich bin total unbegabt. Aber Meine Mutter hat so lange genervt, bis ich gesagt habe, das eine Mal gehe ich hin.“

„Bei mir war‘s die Freundin.“ Lena zeigte auf Fini. „Aber da es so wenige Jungen gibt, wirst du wohl Pech haben und genommen werden.“ Sie grinste schadenfroh.

„Nur, wenn mir jemand hilft.“ Er wirkte so schüchtern und unbeholfen, dass Lena gleich wieder Mitleid bekam. Also blieb sie die Stunde an seiner Seite und sie folgten zusammen den Anweisungen. Eigentlich folgte Lena ihnen und zerrte Tobi dabei mit.

„Soll ich dir das nächste Mal Schuhe mit Stahlkappen mitbringen?“, fragte er, als er zum dritten Mal auf ihren Füßen stand.

„Fußball spiele ich besser“, entschuldigte er sich, als er immer wieder in die falsche Richtung lief.

„Wo spielst du denn?“ Von da an unterhielten sie sich über Fußball und die Ergebnisse der Bundesligaspiele.

Erstaunlicherweise wurden sie trotzdem ausgewählt, genauso wie Fini. Ohne sie hätte Lena auch nicht weitergemacht. Eigentlich hatte sie es auch nicht vorgehabt, aber es war ganz lustig mit Tobi. Und auch der Tanzlehrer, Oliver, war witzig und fröhlich und hatte eine Reihe Sprüche auf Lager, so dass sie immer wieder lachten.

Mutter war ganz begeistert von dem Debütantenball. Wie Lena befürchtet hatte, schleppte sie ihre Tochter in den nächsten Tagen mit einer Einkaufsliste, die Oliver mitgegeben hatte, durch die Läden.

Fini überredete Jakob, mitzumachen. Sie hatte keine Lust, sich mit irgendwelchen unbegabten Jungen herumzuquälen. Sie war eben nicht so resolut wie Lena, sondern ließ es zu, dass die Jungen einfach nicht im Takt tanzten und litt dann darunter.

Mit der Zeit bildete sich um Fini und Lena eine Gruppe. Sie verstanden sich und gingen nach dem Tanzen noch Hamburger essen oder ins Kino.

Und Tobi gab Lena sogar im Tausch zu ein paar Übungseinheiten Tanzen Nachhilfe in Mathe. Er war dabei so begabt, dass sie eine Vier schaffte. Die beste Zensur seit einem Jahr.

Endlich kam der große Tag, Fini fieberte schon die ganze Woche vor Aufregung. „Wird schon schiefgehen.“ Lena grinste sie frech an. „Wenn ich mich blamiere, lässt meine Mutter mich sicher in Ruhe mit weiteren Tanzstunden und so. Am besten stolpere ich über das Kleid und zerreiße es dabei, dann ist es entsorgt und ich muss nie wieder auf so eine Veranstaltung.“

„Und Tobi?“

„Der ist nett, mehr aber auch nicht. Ich kann auch ohne ihn leben.“

Fini lachte. „Glaube ich dir nicht.“

Lena zuckte mit den Schultern. Sie hatte zwei Spiele seiner Mannschaft gesehen. Er war ein richtig guter Stürmer. Ansonsten trafen sie sich nur in der Tanzstunde, da inzwischen die Zeugniskonferenzen gewesen waren und sich weitere Nachhilfestunden erübrigten.

Lena fuhr mit den Eltern zum Ball. Die Mutter war wohl aufgeregter als sie. Jakob und Lena grinsten sich an, sagten aber lieber nichts. Manchmal verstehen Eltern keinen Spaß.

Tobi stand schon am Eingang und wartete auf sie. „Ich dachte schon, du lässt mich sitzen.“ Mit diesen Worten überreichte er Lena eine gebundene weiße Rose.

„Dann gibt es bestimmt ein anderes Mädchen, das mit dir tanzt.“

„Nö, du weißt, wo du mich hinschieben musst. Mit Fini kann ich gar nicht tanzen.“

Und mit anderen Mädchen hatte er es überhaupt noch nicht probiert, weil er sich nicht traute. Der Arme.

Als sie paarweise vor dem Ballsaal standen und auf den Auftritt warteten, wurde auch Lena mulmig zumute. Tobi fasste ihre Hand. Er zitterte so stark, dass Lena Mühe hatte, die gefassten Hände ruhig zu halten. Endlich marschierten sie im Takt ein und tanzten gleich eine Polonaise. Es folgte ein Kotillon und zum Schluss ein Wiener Walzer. Sie schafften es, zu überleben. Dabei vertanzten sie sich nur zweimal.

Als sie wieder hinausgingen, umarmte Tobi Lena. „Vielen Dank. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen gewesen.“ Dann küsste er sie. Lenas erster Kuss. Bisher fand sie Jungen eigentlich nur als Spiel- oder Sportskameraden gut. Aber dieser Kuss gefiel ihr. Jetzt wurden sogar ihre Beine weich, die vorhin doch noch so gut funktioniert hatten. Ihr Bauch kribbelte. Sie drückte sich an ihn. „Tanzen wir weiter, machen wir den nächsten Kurs?“, fragte er leise.

„Auf jeden Fall“, flüsterte Lena und freute sich darauf. Hatte sie am Morgen noch behauptet, niemand würde sie wieder in eine Tanzschule bekommen? Und Tobi würde sie auch nicht besonders interessieren? Was so ein Kuss alles ausrichten kann.

© Eva Joachimsen

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